Der Schauprozess gegen Timoschenko

8 Вересня 2011
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8 Вересня 2011
15:01

Der Schauprozess gegen Timoschenko

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Trotz weltweiter Proteste befindet sich Julia Timoschenko seit vier Wochen in Haft. Die Machthaber der Ukraine wollen die Demokratie-Ikone vorführen. Es ist das Ende der Orangen Revolution. Und vielleicht der Anfang der nächsten
Der Schauprozess gegen Timoschenko

Fotografieren ist verboten. Dort sitzt sie. Der blonde Zopf, ihr Markenzeichen, den sie immer wie eine Krone um den Kopf trug, fehlt. Sie hat die Haare zurückgekämmt. Ihr Gesicht ist schmaler und blasser als früher. Doch ihren Kampfgeist hat Julia Timoschenko, die Ex-Premierministerin, nicht verloren. "Ich will zu Protokoll geben", sagt sie, "dass Richter Kirejew mein von der Verfassung garantiertes Recht auf Verteidigung missachtet, da er meinen Verteidigern nicht die notwendige Zeit einräumt, die Anklage zu lesen." Ihre Stimme wird lauter. "Er verweigert mir eine unabhängige ärztliche Untersuchung, die mir laut Strafgesetzbuch zusteht. Richter Kirejew tut Gewalt an." Der Richter, 32 Jahre alt, sitzt hinter seinem Tisch am Kopf des kleinen Gerichtssaals und hört scheinbar desinteressiert zu. Nur seine rechte Augenbraue offenbart seine Nervosität: Sie zuckt wieder und wieder hoch.

 

Vor zwei Monaten wurde Timoschenko angeklagt. Seit einem Monat ist sie in Haft. Fast jeden Tag muss sie nun vors Gericht, von morgens bis abends, selten weniger als zehn Stunden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Amtsmissbrauch vor, worauf bis zu zehn Jahre Gefängnis stehen. Im Winter 2009, als Russland der Ukraine das Gas abdrehte, hatte Timoschenko neue Gasverträge ausgehandelt. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass sie damals ihre Kompetenzen überschritten und zu hohen Preisen zugestimmt habe. Die Ukraine habe dadurch viel Geld verloren. In Haft genommen wurde sie wegen angeblicher "Behinderung des Gerichts", eine Maßnahme, die weltweit als Einschüchterungsversuch gewertet wird.

 

Es ist ein politischer Schauprozess, wie ihn die Ukraine seit der Unabhängigkeit vor 20 Jahren nicht mehr erlebt hat. Er markiert das endgültige Ende der Orangen Revolution, die das Land in eine Demokratie verwandeln wollte. Im Dezember 2004 gingen aus Protest gegen gefälschte Präsidentschaftswahlen Hunderttausende auf die Straße, angeführt von Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko. Das alte Regime gab klein bei, Juschtschenko wurde Präsident, Timoschenko Ministerpräsidentin. Doch Juschtschenko und Timoschenko zerstritten sich schon bald danach, über Jahre hinweg blockierten sie sich, die versprochenen Reformen kamen nicht voran, und die Wähler wandten sich von den alten Helden ab. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 kamen die einstigen Gegner zurück an die Macht.  

 

Es ist nicht die erste Revolution im postsowjetischen Raum, die gescheitert ist. In Tiflis, dem Schauplatz der Rosenrevolution von 2003, mutierte der Präsident Michael Saakaschwili zu einem Alleinherrscher. Und nach der Tulpenrevolte von 2005 ist die Lage in Kirgistan bis heute instabil. Der Ukraine aber traute man Großes zu - deswegen ist die Enttäuschung tief.



Seit Viktor Janukowitsch an der Macht ist, hat sich die Ukraine sehr verändert. Das Justizsystem verliert mehr und mehr seine Unabhängigkeit, die Medien sind gleichgeschaltet, die Opposition wird mit Schauprozessen drangsaliert. Dabei kommt dem gegen Timoschenko eine entscheidende Bedeutung zu. "Es ist ein Versuch, den wichtigsten Gegner kaltzustellen", sagt Alexander Turtschinow, Vizechef von Timoschenkos Partei. "Sie wird bedroht und erniedrigt. Der Prozess soll Angst säen, und die Macht des Regimes demonstrieren." 

 

Teil 2: Protest per Zeltlager und Luftballons 

 

In der Bevölkerung regt sich wenig Widerstand. Vor dem Gericht aber harren seit Wochen Hunderte Menschen aus. Sie haben ein Zeltlager gebaut, sammeln Unterschriften für die Freilassung ihres Idols, lassen Luftballons steigen und singen Lieder. Jung und Alt, aus Wolhynien im Westen, aus Donezk im Osten und von der Krim im Süden. "Die da oben an der Macht sind Verbrecher", sagt Tatjana, eine Lehrerin aus Winniza. "Sie wollen Timoschenko einsperren, damit sie sich weiter bereichern können."



Jeden Tag, wenn der Transporter mit Timoschenko aus dem Gericht rollt, skandieren ihre Anhänger minutenlang "Ju-li-a!" und beschimpfen die Polizisten, die sie an der Erstürmung des Wagens hindern. Die Leute sind wütend. "Zum Unabhängigkeitstag begnadigte Janukowitsch 16.000 Kriminelle", schimpft Swetlana, eine Rentnerin aus Kiew. "Unsere Julia aber muss hinter Gittern bleiben, obwohl sie nicht mal verurteilt ist." Sie hebt die Faust und ruft: "Schande! Schande!" Hundert andere Demonstranten stimmen sofort ein.



Die Justiz will an Timoschenko ein Exempel statuieren. Sie sitzt in einer Gemeinschaftszelle mit zwei anderen Frauen. Jeden Tag wird sie um fünf Uhr geweckt, muss dann stundenlang in einem winzigen Käfig warten, bis sie gegen acht Uhr mit einem Gefangenentransporter ins Gericht gebracht wird. Vor der Verhandlung kann sie etwa eine halbe Stunde mit ihren Anwälten reden. Die Zustände in der U-Haft sind hart, es gibt keine Duschen in den Zellen, Badetag ist allein Samstag. Die USA und die EU haben das Vorgehen gegen Timoschenko heftig kritisiert. Der Prozess verstoße gegen Rechtsnormen der demokratischen Staaten, urteilt Gutachter Mikael Lyngbo vom Helsinki-Komitee für Menschenrechte. Ihre Festnahme sei "unverhältnismäßig", da keine Fluchtgefahr besteht.

Demokratie

Aufbruch: Nach gefälschten Wahlen demonstrieren 2004 Hunderttausende - angeführt von Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko.

Stillstand: Die Neuwahl gewinnt Juschtschenko. Timoschenko wird Premierministerin. Doch die beiden zerstreiten sich, und 2010 kommen die alten Machthaber zurück.

Rückschritt: Der jetzige Präsident versucht, die Demokratie abzuschaffen - auch mit Timoschenkos Verhaftung. Beim Volk formiert sich erster Widerstand.


"Die EU wäre gut beraten, die Verhandlungen über einen Assoziierungsvertrag auszusetzen, solange Kiew die demokratischen Normen missachtet", sagt Witali Portnikow, Chefredakteur des kleinen oppositionellen Senders TVI. "Timoschenko hat eine politische Entscheidung getroffen, die in keinem Rechtsstaat als Straftat geahndet wird."


Auch mehrere Minister aus Timoschenkos Kabinett stehen vor Gericht. Gegen ihren Parteifreund Turtschinow wird ermittelt, weil er vor zwei Wochen eine Kundgebung am Unabhängigkeitstag organisierte. Dabei kam es zu Schlägereien mit der Polizei. "Das Regime will die Opposition zerschlagen", sagt Turtschinow. Seine Meinung teilen Verantwortliche in der ganzen Welt: Vorige Woche warnten Dutzende internationale Politiker in einem Appell vor einem Demokratieverlust in der Ukraine.


Schon im vergangenen Jahr hat Janukowitsch den Justizapparat mit seinen Leuten besetzt. Das Oberste Gericht hat die Macht des Präsidenten gestärkt. Er nutzte sie, um sich eine Parlamentsmehrheit zusammenzubasteln.

 

Teil 3: Meinungsfreiheit nur im Internet


Die Medien sind gleichgeschaltet. "Die Meinungsfreiheit wurde unter Janukowitsch stark eingeschränkt", sagt Natalija Ligatschowa, Chefredakteurin des Webportals Telekritika, das über die Pressefreiheit wacht. Dafür bekam sie in diesem Jahr den Bucerius-Förderpreis. "Alle wichtigen Sender fahren einen regierungsfreundlichen Kurs, weil sie Oligarchen gehören, die dem Regime nahestehen oder die sich mit der Macht nicht anlegen wollen." Die wichtigste Fernsehholding Inter etwa gehört der Ehefrau des Geheimdienstchefs.


Kritische Sender wie TVi oder TV5 haben einen Teil der Sendelizenzen verloren. Journalisten bei Printmedien werden nicht selten verprügelt. In der Provinz werden Oppositionsblätter mit Finanzamtkontrollen überschüttet. "Wer sein Geschäft nicht verlieren will, gibt nach", sagt Ligatschowa. "Meinungsfreiheit finden nur noch im Internet statt."


Wegen der Parlamentswahlen 2012 macht sich Ligatschowa Sorgen. "Wir können nicht von freien Wahlen reden, wenn die Opposition behindert wird, ihre Information an die Wähler zu bringen."


Neben dem Erhalt der Macht geht es beim Prozess auch um Geld. Hinter der Vendetta wird der Oligarch Dmitro Firtasch vermutet, Chef des Gas-Zwischenhändlers Rosukrenergo, der durch Timoschenkos Gasverträge Millionen verlor. Deren Verurteilung dürfte der Ukraine juristische Argumente liefern, die Gasverträge zu kündigen. Sollte Russland die Gaspreise nicht senken, will die Regierung notfalls vor ein Schiedsgericht ziehen.


Das Spiel ist gefährlich: "In dem Gaspoker hat die Ukraine schlechte Karten", sagt Wadim Karasjow, Leiter des Kiewer Instituts für Globale Strategien. "Ein neuer Gaskrieg im Winter ist nicht ausgeschlossen." Der dürfte der Popularität von Viktor Janukowitsch schwer schaden.

 

Und könnte die Sache wieder drehen. Mehr und mehr gewinnt Timoschenko als Märtyrerin wieder an Sympathie. "Ich habe sie früher nie unterstützt", sagt einer ihrer Anhänger vor Gericht, Alexej, ein Kiewer Bankangestellter. "Aber sie ist die Einzige, die das Land vor der Diktatur retten kann." Timoschenkos Laufbahn ist noch nicht zu Ende.

 

Andrzej Rybak, www.ftd.de

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Andrzej Rybak, www.ftd.de
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Коментарі
2
оновити
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frau
4856 дн. тому
ich finde es lustig
herr
4857 дн. тому
sehr geehrte damen und herren! das ist kaputt! warum nicht im Chinesisch???
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